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Das Königsspiel auf der Wachtenburg

ein Schachturm unter den neuen Funden

2020

von Dr. phil. Holger Grönwald M.A., Dresden

Inzwischen ist Tradition, neben den Grabungsergebnissen außergewöhnliche Funde vorzustellen. Reichlich „Stoff“ ist vorhanden. Wieder soll der Blick auf ein kleines Stück und nach dem Würfelchen in Heft 78 (S. 7f) erneut auf ein Spielobjekt gelenkt werden: einen Schachturm, der gegen Ende der Frühjahrskampagne auftrat. (Abb. 1) Sein Weg in den Boden war lang – ganz abgesehen von seiner weit entfernten Herkunft. Dieser nahm Umwege, so dass er nicht in einer seinem Alter entsprechenden Fundschicht lag.
Der erste Eindruck war eigentümlich, ist er doch ungewöhnlich leicht und dekoriert. Das Material ist asturisches Gagat, auch Augstein, Ambranoir, Drachenblut- oder Schwarzstein genannt. Eine im Mittelalter wertvolle, gern zu polierten Schmucksteinen verarbeitete fossile Pechkohle. Die Form ähnelt einer Schwalbenschwanz-Mauerzinne. Bis auf die Unterseite sind alle Flächen dekoriert. Die aufgehenden Seiten weisen Andreaskreuze auf, die man in der Mitte und an den Enden der Kreuzarme mit Kreisaugenverzierungen versah. Auf den Schmalseiten sind diese Dekorgruppen horizontal gestaucht. Die Oberseite ist eingekeilt und weist mittig eine ausgeschmirgelte Kerbe auf. Selbst neben dieser sind auf zwei kleinen Flächen Kreisaugen-Vierergruppen aufgebracht (als Kreuzmotive zu verstehen). Alle Gravuren waren mit einer weißlich oxidierten, einst silbrig glänzenden Zinnlegierung ausgelegt. Die eigentümliche Durchlochung unmittelbar unterhalb der Scheitelkerbe entstand nicht sekundär, etwa um das Objekt als Anhänger zu tragen. Auf einer zeitgenössischen Darstellung der Figurenfertigung ist sie bereits anzutreffen. (Abb. 2).

Woher stammt der Schachturm?
Wir kennen wundervolle figürliche Schachfiguren – die allerdings erst im 13. Jh. auftreten. Der Turm entstammt dagegen dem älteren, abstrahierten Figurenkanon arabischislamischer Provenienz. Ursprünglich soll Schach im persischen Raum entstanden sein, weshalb sich der Name des königlichen Shatranj-Spiels vom Shah ableitet. Nach Europa bzw. Andalusien überlieferten es wohl sizilianische Mauren, wo im Omaiyadischen Kalifat von Córdoba (929–1031) plötzlich Spielsteine auftreten und sprunghaft verbreiten. Sie können aus Fayence, Knochen in unterschiedlicher Verarbeitung, Hirschgeweih sowie geschliffenen Bergkristall, Chalzedon und Achat sein. (Abb. 3) Ein Gagat-Fund stammt lediglich aus der Innenstadt von York/England. Außerdem gibt es zwei Holzfunde. Aus einer schriftlichen Überlieferung wissen wir von der Verwendung von Eben-, Aloe- und Sandelholz. Diese berichtet auch von einem mit Metall- beziehungsweise Goldeinlagen verzierten Spielset aus verschiedenfarbigen Hölzern, dem vermeintlich schönsten seiner Zeit. Es ist „Das Buch der Spiele“, der Codex Alfonso (Libros de Acedrex, dados e tablas; heute Biblioteca del real Monasterio de San Lorenzo de El Escorial, Palastbibliothek Madrid Ms. J.T.6). 1283/84 in Sevilla von Alphons X./des Weisen von Kastilien-Leon (* 1221, † 1284) in Auftrag gegeben, erläutert es Schachzüge nach dem Vorbild andalusisch-islamischer Schachproblembücher. Und es beruft sich auf die Schachtradition am kastilischen Hof seit der Zeit des leidenschaftlichen Spielers Alphons Vl. León (el Bravo – der Tapfere, * 1037, † 1109). Mit einer Sage veranschaulicht es königlich-ritterliches Verhalten während der Reconquista zur Etablierung christlicher Herrschaft in den verbliebenen andalusischen Teilreichen/Taifas des Kalifats auf der Iberischen Halbinsel. Ein Gegner in Sevilla war der Abbadiden-Kalif Muhammad al-Mu‘tamid ibn Abbad (* 1040, † 1095). Dieser ließ das erwähnte prächtige Schachspiel fertigen, um den Konflikt 1078 friedlich beizulegen. Alphons wollte in dessen Besitz gelangen und ließ sich auf ein Spiel gegen den Berater der Kalifen, den aus Sizilien stammenden Wesir Abu Bakr Muhammad ibn Ammar (* 1031, † 1086) ein. Der Verlierer hatte dem Sieger einen Wunsch zu gewähren. Schachmatt gesetzt, musste der König von Sevilla ablassen, erhielt dafür aber das Spielset. Ähnliche Geschichten um aufs Schachspiel verlegte militärische Entscheidungen finden sich immer wieder (für Sevilla nochmals 1248). Sie verklären diplomatische Erfolge wie etwa von al-Mu‘tamid, der seinen christlichen Gegnern nicht mit Waffen widerstehen konnte [vgl. R. Buland, U. Schädler (Hrsg.), Ludographie – Spiel und Spiele Bd. I (Wien/Berlin/Münster 2009) S. 75].
Ohne mythische Umschreibungen ist belegt, dass man unter der Herrschaft Alfons IX. bei Villaviciosa die Hauptvorkommen spanischen Gagats erschloss und ab Ende des 12. Jh. ein hoch spezialisiertes Schnitzerhandwerk aufblühte (heute als Zunft der Cofradía de los azabacheros de Santiago de Compostela bekannt). Alphons X. unterstellt 1270 während einer Verwaltungsreform die Verwertungskontrolle dem Kloster Santa María de Valdediós in Parroquia Puelle. Prestigeträchtige und wirtschaftliche Erwägungen verwoben sich während des Zeithorizonts, in dem der Fund von der Wachtenburg in Spanien entstand.


Wessen Schachspiel?
Schachfiguren aus Burgen und ländlichen Adelssitzen werden meist dahingehend interpretiert, dass sich gehobenere Gesellschaftsschichten dem zeitaufwändigen Spiel widmeten. Die erwähnten Materialien und der Fertigungsaufwand legen zudem hohe, Status unterstreichende Anschaffungskosten nahe. Bei der auf der Wachtenburg residierenden Klientel erstaunt daher ein solcher Fund grundsätzlich nicht. Qualitativ ist er aber singulär und die knapp umrissene Herkunft lässt Burgkenner aufhorchen. Es war Alphons X., als Gegenkönig des Heiligen Römischen Reichs zu Richard von Cornwall (* 1209, † 1272) gewählt, dem wir die Ersterwähnung im Jahre 1257 verdanken. So wie das Haus Leiningen die Wahl forcierte, begünstigte der König dankend den Speyrer Bischof Heinrich II. von Leiningen (1245–1272). Dessen Bruder Graf Friedrich III. († 1287) fungierte als Bote zur Überbringung der Nachricht der Wahl. Er weilte am Hofe Alphons und brachte wohl simultan das Dokument heim, das dem Bischof seine Besitzungen einschließlich der Wachtenburg bestätigte. Fiktiv und provokant – aber nicht unberechtigt lässt sich die Hypothese aufstellen, dass Friedrich am Hof Alphons mit Schach Kontakt hatte und vielleicht sogar ein unseren urm enthaltendes Spiel als Geschenk heimbrachte. Eine bessere Gabe des Königs für den Boten ist kaum vorstellbar. Darum muss man nicht diskutieren – der Gedankengang soll nur aufzeigen, in welchem Umfeld das Spiel anzusiedeln ist.
„Schönes Stück“ mag man angesichts des neu gefundenen Schachsteins sagen. Zurecht auch: Für die Burg selbst kaum relevant. Doch so klein er ist, er spricht Bände über die Entfaltung und Pflege höfischer Kultur und deren Rezeption auf Burgen. Daneben ist er für die Kulturgeschichte des Schachs eine tatsächlich elementare Ergänzung. Der Turm vermittelt handgreiflich einen Eindruck der vom spanischen Hofstaat übernommenen abstrakten arabisch-islamischen und über weitere sechs Generationen tradierten und modifizierten Schachfigurengestaltung. Sein Verlust aus einem kompletten Figurensatz wäre für den Eigner sicher schmerzlich gewesen. Wie wissen nicht, wann und warum er in den Boden kam. Doch: unwahrscheinlich, dass er als Einzelstück im Umlauf war. So können noch weitere Figuren auf der Wachtenburg der Entdeckung harren, die ein angemessenes Umfeld für das Spiel bot.

 
 

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